Wie begeht die Partei DIE LINKE das 30. Jubiläum der Herbstereignisse des Jahres 1989 ?
Wie reflektiert dies die Partei, worauf blickt sie zurück, was würdigt sie, was kritisiert sie, worauf nimmt sie Bezug, in welcher Tradition und in welcher Verantwortung sieht sie sich ?
Auf diese Fragen finden sich leider keine Antworten. Stattdessen fokussieren Partei und Fraktion auf die Jahrzehnte nach 1989 – auf Treuhand, Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und ihr Image als Interessenvertretung Ostdeutschlands.
Diese Themen sind richtig und wichtig, ganz ohne jeden Zweifel. Aber das genügt bei Weitem nicht.
Die LINKE bleibt auch, das sollte sie um ihrer selbst willen nicht bei Seite schieben, Erbin der Schuld und der Verantwortung der SED, sie bleibt verantwortlich für das Scheitern einer gesellschaftlichen Praxis, die den Begriff des Sozialismus für sich reklamierte.
Dieser Verantwortung hat sie sich in den vergangenen Jahrzehnten mit nachlassendem Engagement immer wieder auch gestellt.
Zu dieser Verantwortung gehört aber auch, alle jenen mit ausdrücklichem und öffentlichem Respekt zu begegnen, die in der DDR auf die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, zwischen Verfassungstext und Verfassungspraxis, zwischen erklärtem Anspruch und gelebter Wirklichkeit aufmerksam gemacht haben, dafür hohe persönlichen Risiken in Kauf genommen und vielfach einen hohen biographischen Preis zu zahlen hatten.
Dazu kommt: Ein nicht unerheblicher Teil des Widerstandes gegen die gesellschaftliche Praxis in der DDR kam von links, teilweise aus der SED selbst.
Ein ganz erheblicher Teil der Forderungen, mit denen z.B. die Initiative für Frieden und Menschenrechte, der Demokratische Aufbruch, das Neuen Forum, die Frauen für den Frieden und viele andere die SED konfrontierten, hatten zum Ziel, den Sozialismus endlich zu realisieren, ihn ökonomisch und ökologisch überlebensfähig, partizipativ und attraktiv zu machen, die DDR zu entmilitarisieren und neben sozialen Rechten auch individuelle Bürgerrechte endlich zu verwirklichen.
Schließlich: Die DDR ist nicht an Ihren Kritiker*innen zugrunde gegangen, sondern auch daran, dass sie nicht auf sie gehört hat. Damit, dass sie jene, die sie konstruktiv-kritisch herausgefordert haben, kaltgestellt, bespitzelt, „operativ bearbeitet“ und ins Gefängnis oder aus dem Land geworfen hat, hat sie sich genau jenes Potentials beraubt, dass sie dringend gebraucht hätte, um sich weiterzuentwickeln. Sie hat damit, absichtsvoll, Signale gesetzt, die der theoretischen Erkenntnis, dass Widersprüche Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung sind, diametral entgegenstanden.
Die Partei hatte recht. Jede Abweichung und Infragestellung war verdächtig. Dem Verdacht wurde nachgegangen. Rechtsstaatliche Prinzipien endeten dort, wo die Macht eine Erschütterung phantasierte. Dies hat die Gesellschaft gelähmt, erstarren lassen, vergiftet und auch zerstört.
Selbstverständlich ist es schwierig, mit einer derart eben auch schuldbeladenen eigenen Geschichte umzugehen. Aber dieses Erbe kann nicht ausgeschlagen werden.
Es muss auch heute und künftig offensiv angenommen und verarbeitet werden.
Die weitgehend unblutigen, wenn auch nicht gewaltlosen Verläufe der Revolutionen Osteuropas werden heute oft überwiegend von Ergebnis her bewertet, von rechts und von links.
Dies wird den Akteuren und Prozessverläufen von damals mindestens in der DDR aber keinesfalls gerecht.
Die Ziele und Absichten derer, die im Lande bleiben und Reformen durchsetzen wollten, sind unvermittelt in den Schatten dessen geraten und gerückt worden, was unter dem Narrativ und dem symbolträchtigen Bild vom Mauerfall weltweit heute mit dem Jahr 1989 assoziiert wird.
Wer in diesen Schatten geht und sich umsehen mag, entdeckt eine Welt von Vorstellungen, Hoffnungen, hochfliegenden Absichten, bittersten und rührendsten Erfahrungen und Reflektionen, entdeckt einen Kosmos von wundervollen Menschen und den ganzen Fundus menschlicher Leidenschaften, von Irrungen und Hellsichtigkeiten.
Er entdeckt sehr heterogene Gruppen von Menschen und Konstellationen, auch viele Einzelne, zu unterschiedlichen Zeiten, die sich eine politische und soziale Welt erträumten, die abgeleitet war aus der krassen Widersprüchlichkeit des angeblich real existierenden Sozialismus.
Nicht der Westen war das Referenzmodell. Die Bundesrepublik war nicht die Blaupause, auf der gedacht wurde. Die staatliche Einheit stand nur bei wenigen auf der Agenda.
Vielen ging es über Jahrzehnte um einen freiheitlichen Sozialismus, einen pazifistischen Internationalismus, schon damals auch um den Nord-Süd Konflikt, um ehrliche Aufarbeitung von Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rassismus auch in der DDR, um Aussöhnung mit Polen und Themen des Umweltschutzes im Angesicht der haarsträubenden Verwüstungen, die die veraltete Industrie vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt in der Landschaft, den Städten und den Lungen anrichtete.
Was in diesen Jahrzehnten, notgedrungen oft im Umfeld der Kirchen, gedacht, diskutiert, geschrieben und künstlerisch gearbeitet wurde, wird in seinem Tiefgang und seiner politisch ethischen Reife sträflich unterschätzt. Wer die Samisdat-Literatur der DDR zur Kenntnis nimmt lernt schnell: Die waren damals schon auf der Höhe nicht nur ihrer Zeit. Die hatten über den Kapitalismus keine Illusionen. Die kannten die Grenzen des Wachstums auch in der Mangelwirtschaft der DDR.
Der Widerstand gegen die SED- Diktatur verdient dort, wo er die DDR von links, auch wo er sie aus einer verantwortungsethischen und christlichen Perspektive kritisiert hat und wo es schlicht um den selbstverständlichen Anspruch ging, sagen zu können, was ist, die volle Aufmerksamkeit der Partei DIE LINKE. Hier gibt es ein Erbe, dass es sich anzueignen gilt. Es ist ein zutiefst emanzipatorisches Erbe.
Gegenwärtig gibt es niemanden, der sich um diese Erbe kümmert. Es gilt als abwegig, von der Geschichte überholt und erledigt, als naiv, maximal tauglich als Anschauungsobjekt in einer Zeitkapsel, die gegen das Heute hermetisch durch den Fall der Mauer abgegrenzt ist, ohne Bezug und Wirkungsgeschichte.
Die LINKE ist es sich und diesen Menschen schuldig, dieses Erbe anzunehmen ohne es sich einzuverleiben. Hier kann für die Zukunft gelernt werden.
Aber auch die LINKE weicht aus.
Während das übrige politische Spektrum von den Intentionen und Motivationen, aus dem der Widerstand gegen den verhunzten Sozialismus seine Energien bezog, nichts mehr wissen will, weil es diese, wie oben beschrieben, honorig aber abwegig findet, scheut die LINKE die Berührung mit diesem Erbe, als könne sie sich erneut mit dem Pariavirus anstecken, wenn sie mehr als unbedingt nötig, sich dem Thema zuwendet.
Als Bürgermeister von Pankow kann ich das nicht. Denn seine Ortsteile Prenzlauer Berg, Pankow und Weissensee, waren wichtige und entscheidende Schauplätze, sowohl bei der Aufdeckung der Wahlfälschungen im Mai 1988 anlässlich der Kommunalwahlen in der DDR, als auch später im Jahr des Umbruchs wie an der Gethsemanekirche. Vor allem aber lebten hier über Jahrzehnte viele Menschen überall, die sich nicht in die geistige Kaserne sperren ließen und auf die Vielfältigkeit menschlichen Lebens und menschlicher Erfahrungen bestanden.
Und auch vor meinem eigenen biographischen Hintergrund in der evangelischen Kirche der DDR will ich auf das Feiern nicht verzichten. Darum habe ich hier eine ganze Veranstaltungsserie aufgelegt, die unterm Arbeitstitel „Friedliche Revolution von unten“, den Ansatz verfolgt, den überwiegend unbekannt gebliebenen Akteuren Aufmerksamkeit zu schenken, damit zu würdigen und eine Stimme zu geben. In einem groß angelegten Projekt hat eine Pankower Künstlerin 195 Bodenzeichen in Pankow verlegt, die auf Orte und Menschen hinweisen, die zum Umbruch beigetragen haben Diese Bodenzeichen sind mit QR-Codes versehen und verweisen auf eine Internetseite, (https://aufbruch-herbst89.de/uebersicht/) auf der sich Interviews, Bildmaterial und andere Medienzugänge finden. Es werden Stadtführungen angeboten und vieles mehr.
Damit das Erbe der friedlichen Revolution nicht im Kitsch ersäuft wird und wie ein erlegtes Tier ausgestopft auf dem Kaminsims des neuen Deutschland als Trophäe verstaubt, muss es angenommen und in seiner ganzen Breite erschlossen werden als lebendiges und widersprüchliches Erbe dieses Deutschlands, als lebendige Geschichte, die fortwirken soll.
Die schon weit fortgeschrittene Instrumentalisierung der Friedlichen Revolution als Gründungsmythos des vereinigten Deutschlands wird nicht dadurch gegenirritiert, dass man sie den Zeremonienmeistern der neuen nationalen Erzählung widerstandslos überlässt.
Auch wenn die Grünen mit einigem Recht meinen, dies Erbe gehörte Ihnen, weil eine ganze Reihe ehemaliger Bürgerrechtler*innen dort ihre neue politische Heimat fanden. Die Wahrheit ist, die meisten Bürgerrechtler*innen der Zeit vor 1989 fanden danach nirgendwo eine neue politische Heimat, wenn sie überhaupt im neuen Deutschland eine Heimat fanden.
Das Erbe von 1989 gehört niemandem und es gehört allen. Und anders als in der DDR kann niemand mehr den Anspruch erheben eine abschließende Bedeutung zu behaupten und eine allgemeingültige Lehre zu ziehen.
Der DDR- Sozialismus ist gescheitert und das verdient. Soviel steht fest. Seine Überwindung hat auch einen theoretischen und praktischen Irrweg beendet. Das ist gut.
Aber gerade im Prozess der Befreiung von seinen Fesseln ist viel wertvolle Utopie produziert worden. Viele erinnern sich noch an das Glück und die Leichtigkeit, an die Hoffnung und die Zuversicht jener Monate, das Erleben von Selbstwirksamkeit.
Viele Menschen waren wie verzaubert und erlöst. Dieser Umbruch war ein Befreiung.
Auch die SED wurde von sich selbst befreit. Das Land, das ihr gehörte, war ein Gefängnis geworden, kein verhindertes Paradies. Der damals produzierte utopische Überschuss geistert ortlos durch die endlose Gegenwart des Turbokapitalismus. Kein Ort, nirgends, an dem dieser Überschuss aufgehoben ist. Und kein Asyl im Paradies.
Die LINKE sollte dieses Erbe annehmen.