Die Stasi war der Geheimdienst einer Parteidiktatur und hat neben der „normalen“ geheimdienstlichen Arbeit, wie sie auch westliche Geheimdienste machen, den zusätzlichen Auftrag der Unterdrückung der politischen Opposition wahrgenommen. Dabei hat sie systematisch Methoden verwandt, die Menschenrechte und Menschenwürde missachteten. Sie hat Verbrechen und Psychoterror zu verantworten, sie hat absichtsvoll Menschen zerstört und auch ermordet. Sie hat die eigene Bevölkerung überwacht und bespitzelt.
Jede und jeder, der/die nicht ideologisch durch das Elternhaus vernebelt oder völlig gleichgültig war (die gab es auch in Mengen), wusste das auch schon zu DDR-Zeiten.

So war für mich, Jahrgang 68, immer völlig klar, daß es sich weder gehört in die SED einzutreten, noch an der Grenze zu dienen, geschweige denn, mit der Stasi zusammenzuarbeiten. Aber: meine Eltern waren zwar Lehrer, aber auch Kirchenmitglieder, sie waren keine Oppositionellen, aber eben auch eben keine aktiven Systemträger.
In unserer ganzen Verwandtschaft und dem Freundeskreis meiner Eltern kann ich mich an kein einziges SED-Mitglied erinnern. Es hat jedenfalls nie eine Rolle gespielt im privaten Umfeld.
Hinzu kam ein starker Einfluss des friedensbewegten Pfarrers der Gemeinde, in der ich aufwuchs. Ich glaubte an die Autorität Gottes und die daher nachrangige Stellung irdischer Autoritäten. Das machte Einen automatisch etwas entspannter.
„Schwerter zu Pflugscharen“, fand ich toll. Die „Solidarnosc“-Sticker, die ich aus Polen mitgebracht hatte, musste meine Mutter wegschließen, damit ich sie in der Schule nicht an die Jacke tat. Da war ich 13 Jahre alt.

Es ist kein besonderes Kunststück in einem solche Umfeld schon zu DDR- Zeiten irgendwie kritisch gewesen zu sein. Es ist aber auch kein besonderes Verdienst, daß mich heute zu moralischem Hochmut berechtigte.

Das aber habe ich erst lernen müssen. Und ich habe es auch nur deshalb gelernt, weil ich im Jahr 2000 in die PDS eintrat und nun plötzlich häufiger Menschen traf, von denen ich mir zu DDR- Zeiten nie wirklich klar gemacht habe, daß es sie überhaupt gab.

Menschen, die tatsächlich zur DDR-Zeiten an die DDR glaubten, die aus Elternhäusern kamen, die diese Glauben kultivierten bis zum Schluss. Menschen, deren Familien seit Generationen der kommunistischen Idee folgten und daher loyal blieben. Menschen, die mit aller Macht versuchten auszublenden, was doch für den Großteil der Bevölkerung offensichtlich war. Und ich begegnete Menschen, die beim Wachregiment gedient hatten, auf Offiziersschulen gewesen waren und Menschen, die zu Teilen Ihres Lebens auch Bedienstete des berüchtigten Ministeriums waren oder dorthin gegangen wären ohne den Herbst 89.( Diese Menschen sind übrigens in heute dieser Partei nur eine Minderheit und fallen auch nur Menschen mit meinem biographischen Hintergrund überhaupt auf. Wir haben dafür einen Riecher. )
Und ja, es ist mir in den ersten Jahren sehr, sehr schwer gefallen, die Verachtung und das Ressentiment in mir abzulegen und diesen Menschen eine Chance zu geben. Es ist mir schwer gefallen mir selber die Chance zu geben, sie kennenzulernen als die, die sie nun geworden waren und nicht nur wahrzunehmen als jene, als die sie mir begegnet wären, wäre wir uns früher begegnet.
Darum habe ich durchaus Verständnis, wenn Betroffene bei der Causa Holm eine innere Verhärtung spüren, eine Unnachgiebigkeit und auch eine Lust, sich noch und noch zu rächen für die erlittene Demütigung und das politische Unrecht von damals.
Ich kann den Impuls nachvollziehen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit noch einmal klarzumachen: Die DDR war nicht der bessere deutsche Staat, der sie hätte sein sollen und vielleicht können. Sie hat ihre Macht auch auf Verbrechen gestützt. Die Stasi war tatsächlich Schild und vor allem auch Schwert dieser diktatorischem Herrschaft.

Ich halte diese Unnachgiebigkeit und diesen Furor auch gegenüber einzelnen Menschen aber für grundfalsch. Und das hat auch nichts mit Aufarbeitung zu tun.
Aufarbeitung heißt, ein System in seinen Strukturen, in seinem Werden, Bestehen und Untergang zu erforschen, die Mechanismen der Macht offenzulegen, zu zeigen, wie Diktaturen funktionieren, was sie mit den Menschen macht und was es braucht, um sich forthin davor zu schützen. Aufarbeitung heißt auch, Menschen, die Verbrechen verübt, befohlen oder politisch zu verantworten haben, persönlich mit den Mitteln des Rechtsstaates haftbar zu machen. Aufarbeitung hieß und heißt aktuell auch immer noch Überprüfung von Menschen auf Stasi-Tätigkeit, wenn sie in öffentliche Ämtern wollen. Dabei hat die Praxis in den vergangenen 26 Jahren durchaus zu differenzieren gelernt.

Bei Andrej Holm jedoch verfällt die Öffentlichkeit wieder in Reflexe, die skurril und aufschlussreich sind, ernüchternd und abstoßend.
Es ist heute völlig irrelevant, ob ein damals 18 Jähriger auf Zeit oder auf Dauer zur Stasi wollte, wenn er sich 26 Jahre später glaubhaft von dieser Absicht distanziert und sein Leben seitdem Beleg für seine veränderte Haltung ist. Es ist heute völlig irrelevant, ob er sich ob der formalen Aspekte zur Einstufung seiner Tätigkeit richtig oder falsch erinnert hat. All dies sind nur billige Aufhänger für jene, die vom Standpunkt des moralischen Hochmutes aus noch die kleinste Lässlichkeit als Beleg für die Unmöglichkeit des Holm sehen wollen.
Wichtig ist im Jahr 2016 lediglich: Wer ist dieser Mann heute, wofür steht er, was vertritt er. Geklärt ist bereits: Er hat zu DDR- Zeiten keine unverzeihliche Dinge getan, die ihn im Jahr 2016 für öffentliche Ämter untragbar machen.
Und wer den Holm wegen seiner vermeintlichen Nähe zum Linksradikalismus ablehnt, der kann getrost auch mich sich öffentlich zur Brust nehmen. Ich kann mich an keinen Text von Holm erinnern, den ich als besonders radikal empfunden hätte. Das sollte mich verdächtig machen.

Letzte Anmerkung: Irgendwann in einem dieser widerlichen Weherziehnungslager während meiner Lehre gab es abends irgendeine Diskussion am Lagerfeuer mit den Polit-Genossen. In der DDR war es üblich „unsere“ Republik zu sagen. In unserer Republik gibt es dieses und jenes….. Unsere Republik will…..trallala.
Ein Code, dessen man sich besser bediente, gerade auch, wenn man etwas kritischer diskutierten wollte, denn er enthält ein grundsätzliches Bekenntnis. Im Eifer des Gefechts verletzte ich diesen Code unabsichtlich und sagte „In diesem Land“….. an irgendeiner Stelle.
Das wurde sofort bemerkt, die sprachliche Distanzierung, dieses von Außen betrachten als Indiz einer Dissidenz gedeutet . Ein kleiner Inquisitor am Lagerfeuer stürzte sich agitatorisch auf diese Wortgruppe und wies der angetrunkenen Versammlung meine politische und moralische Verkommenheit nach. Eine lächerliche, wenn gleich beängstigende  Aktion. Aufhetzen ließ sich aber in der 2. Hälfte der 80er auch niemand mehr so richtig.
Dieser Tage erinnere ich mich an diese Episode. Es muss was Wunderbares sein, auf der richtiges Seite zu stehen, die Macht hinter sich zu wissen und einen Delinquenten mal so richtig zu demütigen. Sonst wäre sie keine so zeitlose Erscheinung, die heilige Inquisition.